In einem gemeinsam mit Victoria Vonau veröffentlichten Aufsatz haben wir die Gaia-Hypothese wie folgt skizziert: „Lange Zeit wurden die mikrobiologischen Beobachtungen der Zoologin und Genetikerin Lynn Margulis, die sie nicht nur unter dem Mikroskop, sondern auch bei Strandspaziergängen durchführte, in der Fachwelt belächelt. Ihre serielle Endosymbiotentheorie (SET) gilt jedoch inzwischen als akzeptierte Lehrmeinung und hat Eingang in Schulbücher gefunden. Margulis sprach davon, dass Symbiose, die den mitunter engen körperlichen Kontakt und das Zusammenleben unterschiedlicher Arten miteinander beschreibt, überall als Basis des Lebens zu beobachten sei. Symbiotische Beziehungen würden sich mittels Symbiogenese bis in den Zellkern einschreiben und hätten zur Entstehung von Artenvielfalt geführt. Symbio(gene)se sei als elementares Prinzip zu begreifen, um evolutionäre Prozesse auf der Erde zu beschreiben. So ließen sich beispielsweise dreihundert verschiedene Pilze, sogenannte Mycorrhiza, ausmachen, die eng mit dem Wurzelwerk von Bäumen verbunden seien. Ebenso wie menschliche als auch nicht-menschliche Lebewesen überwiegend unbemerkt von diversen Organismen bewohnt würden. Margulis schreibt:
Der größte Teil der Evolution hat sich in jenen Lebewesen abgespielt, die wir als ‚Mikroben‘ abtun. Wie wir heute wissen, hat sich alles Leben aus den kleinsten Lebensformen, den Bakterien, entwickelt. […] Mikroben und insbesondere Bakterien werden gewöhnlich als Feinde betrachtet und als Keime verunglimpft. […] Ich behaupte: Wir Menschen sind […] das Ergebnis der Milliarden Jahre währenden Wechselwirkungen zwischen höchst reaktionsfähigen Mikroben [Algen, Bakterien, Hefen und so weiter].
Margulis 2018, 11.
Gemeinsam mit James Lovelock entwickelte Margulis die ‚Gaia-Hypothese‘, „die besagt, dass die Erde durch verschiedene Eigenschaften der atmosphärischen Gase, der Oberflächengesteine und des Wassers durch Wachstum, Tod, Stoffwechsel sowie durch andere Aktivitäten aller Lebewesen reagieren würde, das heißt mit einem ‚Superorganismus‘ vergleichbar wäre. Gaia könne, so schreibt Margulis, mit den Worten ihres ehemaligen Studenten Greg Hinkle beschrieben werden als ‚Symbiose vom Weltraum aus gesehen‘ (Margulis 2018, S. 8). Damit wandte sich die Genetikerin gegen den von dem Evolutionsbiologen Richard Dawkins behaupteten Egoismus der Gene (Darwkins 2007). Sie sprach sich […] gegen eine Vorstellung von Evolution als ‚Kampf ums Dasein‘. Vielmehr beschreib[t sie] koevolutionäre Prinzipien, die auf Kooperation, Kommunikation und Kreativität gründeten (Margulis 2016).“ Mangelsdorf & Vonau 2020, 43, 44.
Erstmals formulierte James Lovelock Mitte des 20. Jahrhunderts die Gaia-Hypothese. Mit der Bezeichnung rekurrierte er „auf die griechische Erdgottheit Gaia, um – wie ihm sein Freund und Autor des Bestsellers Lord of the Flies William Golding riet – mit seinen in den 1970er Jahren durchgeführten NASA-Experimenten ein nicht nur wissenschaftliches, sondern vor allem auch öffentliches Interesse zu wecken. Lovelock verglich die biophysikalischen Bedingungen auf dem Mars mit denen auf der Erde, um ein besseres Verständnis von deren Lebensbedingungen zu ermöglichen und darauf aufbauend für ein ökologisches Bewusstsein zu sensibilisieren. Zu diesem Zweck bezeichnete Lovelock in Rückbezug auf die griechische Gottheit die Erde metaphorisch als einen Superorganismus, wie sie der Naturforscher und Geologe James Hutton bereits im 18. Jahrhundert beschrieb. Margulis betrachtete diese Metapher mit Skepsis, präferierte die Rede vom ‚Ökosystem Erde‘, das nur in Wechselwirkung verschiedener aufeinander verwiesener kybernetischer, das heißt sich selbstregulierender Systeme zu begreifen sei. Doch im Wesentlichen verfolgten Margulis und Lovelock einhellig die Gaia-Hypothese und verfassten eine Reihe gemeinsamer Veröffentlichungen, die Bezug nehmen, worauf bereits der Genetiker Jean-Baptiste Lamarck hinwies:
Living phenomena [do] not stand alone, but ha[ve] to be seen as part of a larger whole, nature; indeed, they [are] only comprehensible when their constant interaction with the nonliving world is recognized.
Jean-Baptiste Lamarck, zitiert nach White 2016, 61
Mit ihren Theorien setzte sich Margulis ebenso wie Lovelock für einen Wandel ein, dafür sprach Margulis ebenso vor der NASA wie vor akademischen Kreisen. Sie war davon überzeugt, dass wie sie es in Anlehnung an Ludwig Fleck nannte “thought collectives“ (Fleck 1935) grundsätzlich verändert werden können und angesichts der Umweltzerstörungen auch Veränderung erfahren müssten. Eine zutiefst anthropozentrische und damit einseitige Sichtweise auf die Erde und das Leben galt es in ihren Augen hinter sich zu lassen. Zudem wies sie darauf hin, welchen dramatischen Einfluss die Menschen durch ihre technisch präformierte Welt auf die Biosphäre nehmen würden. Vehement sprach sie sich gegen den vom Neo-Darwinismus geprägten kapitalistischen Zeitgeist aus. Nicht als Wettbewerb beschrieb sie die Evolution, sondern als Kooperation. Sie konzentrierte sich auf Wechselwirkungsprozesse, wenn sie Mikroorganismen unter dem Mikroskop beobachtete. Es ging ihr von Grund auf um die Entstehung der Arten, nicht um ihre Selektion und Mutationen, sondern darum, wie aus Symbiogenese Leben erwächst, sich ausgestaltet und in einen Zyklus von Werden, wechselseitiger Versorgung und Vergehen eingebunden ist.“ Mangelsdorf & Vonau 2020, 47–48.
Mangelsdorf, Marion & Vonau, Victoria (2020) „Monarchfalter-Werden – Symbio(gene)se als intersoziologische Dimension“. In: Michael Schetsche und Andreas Anton (Hg.) Intersoziologie. Menschliche und nichtmenschliche Akteure in der Sozialwelt. Weinheim: Beltz Juventa, 43–59.
Außerdem finden sich weitere Überlegungen zu Gaia u.a. von Victoria und mir in dieser Webdoku: