Muße zwischen St. Petersburg und Moskau

„In a Landscape“, – während ich aus dem Fenster eines Buses schaue, höre ich diese  Klangcollage von John Cage. Dabei ziehen Datschen und Flusslandschaften auf der Tverskaya Ulitsa – der Schnellstraße von St. Petersburg nach Moskau – vorüber. Zu Sowjetzeiten haben hier Überflutungen der gestauten Wolga ein ganzes Dorf zur Umsiedlung genötigt. Mit zeitgenössischen Kompositionen oszilliert mein Inneres zwischen den vor mir ausbreitenden Landschaften und der Verarbeitung der vielschichtigen Erlebnisse. Dabei werde ich allmählich hineingezogen in das wechselseitige Ineinanderwirken von Vorstellungen über Orient und Okzident. Der Bus wird dabei zum Rückzugsort, in dem sich Muße durch das besonders intensive Erleben des Dazwischen entwickelt und sich Reiseerfahrungen verdichten:

Transklokal zwischen der verarmten Provinz rund um Tver und dem urbanen, mitunter mondänen Flair russischer Großstädte. Wobei sich zwischen der westlich orientierten, an der Ostsee gelegenen, strategisch entworfenen Stadt St. Petersburg und der historisch gewachsenen östlich geprägten Metropole Moskau ein besonders markanter Zwischenraum des Ost-West-Kontrasts finden lässt.

Zeitlich erfahre ich ein Dazwischen, das sowohl retrospektive als auch dystopische Assoziationen in mir hervorruft: So entstehen in mir – etwa beim Besuch des Katharinenpalastes oder verlassener Adelsgüter in Vasilievo und Mitino – vage Vorstellungen längst vergangener zaristischer sowie beim Besuch der ehemaligen Künstlerkollektivanlage Peredelkino sowjetischer Lebensweise. Ebenso wie mich urbane Szenarien in Moskau an Science-Fiction-Klassiker wie „Blade Runner“ erinnern. Dieser Eindruck taucht unter anderem in dem Moment in mir auf, da „Letters of a Traveller“ von Ólavur Arnalds auf meinen Kopfhörern ertönt. Dabei blicke ich in die abendliche Dunkelheit hinaus, wo riesige Plattenbausiedlungen an der äußersten Peripherie Moskaus zu sehen sind.

Emotional tauche ich besonders tief in einen Zwischenraum ein, als ich mit der Moskauer Metro die Exkursionsgruppe im Hotel verlasse, um einen Freund zu treffen, den ich vor zwanzig Jahren das letzte Mal in Berlin gesehen habe. Entlang der von avantgardistischen Leuchtern behangenen und von Hunde-Polizeistaffeln durchzogenen Metrostation begebe ich mich in einen der alten U-Bahn-Wagons. Während hier „Father Ocean“ von Monolink durch meine Ohren rauscht, stellt sich ein eigentümliches Gefühl zwischen Fremdheit und Vertrautheit in mir ein. Grundlegend aber entfaltet sich Muße während dieser gesamten Zeit durch das Gefühl sich in einem Ausnahmezustand zu befinden. Ein Gefühl, dass dadurch hervorgerufen wird, dass ich mich vollständig jedes Alltags enthoben empfinde. Außerdem, da es mir gelingt, mich ganz und gar auf den Rhythmus und die Stimmung der Exkursionsgruppe einzulassen. Einer Stimmung, die von einer angenehmen Mischung aus Ausgelassenheit und ernsthafter Auseinandersetzung mit dem Erlebten geprägt ist.